Wir sind oben angekommen, mit der Gondel. 🚠 Schon hier, am Beginn der Comuna 13, empfängt uns ein Gewusel von Menschen UND Brian, 27 Jahre alt und einer, der das Grauen noch voll mitbekommen hat.




Brian lässt uns hineinschauen in sein junges Leben. Er ist aufgeregt und voller Tatendrang. Das hier war Kriegsgebiet, sagt er. Hier kämpften alle gegen alle, um Menschen, um Land und um Macht und um die San Juan Avenue. Sie war der Zugang zur karibischen Küste, der ideale Schmugglerweg für Drogen, Waffen, Geld. Wer sie und damit die Comuna kontrollierte, kontrollierte den Drogenhandel. In den 80er und 90er Jahren, bekämpften sich die FARC, eine revolutionäre Streitkraft / die Guerilla, eine marxistisch, linksextreme Gruppe / das Militär des Staates und mit diesem (aber auch nicht immer) das Paramilitär, rechtsextrem ausgerichtet. Ein heilloses Durcheinander. Nicht zu vergessen, Pablo Escobar! Er mischte natürlich kräftig mit um die Hoheit dieses Gebietes. Zusätzlich spielten noch weitere Gruppierungen eine Rolle. Mir schwirrt der Kopf, ich lass es mal soweit gut sein. Mit 10 Jahren wird Brian Bandenmitglied. Bei welcher Bande, sagt er nicht. Da ist sein Vater schon längst tot. Der Leichnam wird nie gefunden. Vermutlich ist auch er auf der gegenüberliegenden, gut zu sehenden Bauschuttdeponie verscharrt worden, wie so viele.

Seine Mutter schickt ihn weg von hier, zur Tante aufs Land. Sie will sein Leben retten, er ist ihr einziges Kind. Sie selbst bleibt hier und verteidigt ihr Zuhause, ihre Baracke. Das ist alles was sie hat, sie muss bleiben, und sie überlebt. Jeden Tag gibt es regelrechte Straßenschlachten, die Mütter und Kinder verschanzen sich im Haus unter den Betten, hinter Schränken. Sie stellen Matratzen vor die Fenster und Türen, um Kugeln abzufangen.

Das gelingt natürlich nicht immer, und so mancher, auch Kinder, werden von Querschlägern getroffen und müssen durchhalten bis die tägliche Schlacht geschlagen ist und sie ins Krankenhaus gebracht werden können. Im Viertel haben sie heute ein kleines Museum mit einigen Artefakten aus dieser Zeit.

Um sich zu finanzieren, verkaufen sie buntbemalte T-Shirts und Kappen. Klaus genehmigt sich eine.

Übrigens, nur eine Zahl, 60 Prozent der 50 bis 60-jährigen Männer, also unsere Generation, sind hier tot. Mehr als die Hälfte der Männer diesen Alters gibt es nicht mehr…
2002 ist dann das Jahr der Wende. An der Comuna 13 wird ein Exempel statuiert. Die Operation „Orion“ beginnt am 16. Oktober 2002. 4 Tage wird das Gemetztel andauern. Der kürzlich gewählte, ultrarechte Präsident Álvaro Uribe, schickt 1.500 Soldaten und Polizisten, Militärhubschrauber und gepanzerte Wagen in das Kriegsgebiet und lässt auf alles schießen was sich bewegt. Auch arbeitet die Regierung mit paramilitärischen Einheiten zusammen. Unzählige finden in diesen Tagen den Tod, auch viele Zivilisten. Das Paramilitär recht sich an vielen unliebsamen, linksgerichteten Personen. Viele Opfer werden auf besagter Bauschuttdeponie verscharrt und bleiben verschwunden.

Auch heute ist und bleibt die Deponie Sperrgebiet, niemand darf an die Gebeine der Getöteten heran. Warum?? Auch die heutige Regierung mit Gustavo Petro, dem erste Präsident der revolutionären Linken, traut sich nicht ran an die Aufarbeitung. Wurde doch damals mit den von der Bevölkerung so verhassten Paramilitärs zusammengearbeitet. Die Exhumierungen würden eine riesige Entschädigungswelle auslösen. Das wäre finanziell auch heute für das Land nicht zu stemmen. Die Guerilla war besiegt, die Paramilitärs am Drücker und die Regierung beschließt Aufbauprojekte.
Brian erzählt, ab 2007 erholt sich das Viertel langsam. Überall zieren plötzlich Graffiti die Wände der Häuser. Mit Kunst, Hip Hop, Breakdance, Sport und Rapp versucht die Jugend das schreckliche Trauma zu verarbeiten. Und das ist Brian ganz wichtig!, die Jugend beschließt andere Wege zu gehen als noch ihre Eltern sie gingen. Und die Jugend gewinnt, sagt er mit leuchtenden Augen. Sie lernen, dass es andere Wege gibt als Gewalt. Das ganze Land ist müde vom fast 50- jährigen Bürger- und Bandenkrieg. Dann kommt das irre Rolltreppenprojekt. 2010 ist Planungsbeginn. Das ganze muss gut und mit viel Fingerspitzengefühl vorbereitet werden. Sozialarbeitern wird schnell klar, dass es für viele Menschen fast unmöglich ist die steilen Hänge zu ihren Behausungen zu erklimmen. Insbesondere für Alte, Schwangere und Erkrankte ist es schier unmöglich. Aber erstmal muss das riesengroße Müllproblem und die Versorgung mit Wasser und Strom bewältigt werden. Die Regierung und die Stadt tun Buße an dem so lange vernachlässigten Gebiet. Dann muss den Bewohnern erst einmal erklärt werden, was eine elektrische Rolltreppe überhaupt ist. Für den Bau sollen 30 Häuser weichen, passender Ersatz geschaffen werden und dann geht’s los, im Februar 2011. Wenn man jetzt glaubt, die Bandenproblematik sei vollkommen gelöst, irrt man gewaltig. Denen gefällt das Rolltreppenprojekt so gar nicht! Verlieren sie doch dadurch die Herrschaft über ihr Viertel. Während der Bauarbeiten kommt es immer wieder zu Schießereien. Die Vorarbeiter rufen aufgeregt die Bauleitung an und berichten davon. Man beschließt Warnsirenen zu installieren und gibt die Devise aus, bei Alarm so schnell wie möglich nach Hause zu laufen. Das Projekt gelingt, es geht um Mobilität und um Stolz auf das Geschaffte. Niemand dachte da an eine Touristenattraktion! Der Schlüssel war, dass die Menschen der Comuna 13 mit einbezogen wurden, bei allem! Bei der Planung, der Entwicklung und dem Bau. Das brachte den Erfolg, legaler Lohn für legale Arbeit. Das blieb bis heute. Und nun können sie sich vor Touristen kaum noch retten, machen ihre legalen Geschäfte, der Rubel rollt. Sie sind sehr stolz und wollen es sich nicht mehr nehmen lassen! Wer nicht mitspielt, muss sich ändern oder gehen. Sie haben alles bestens im Griff. Und so ist aus dem tödlichen Moloch ein sehr sicheres, fröhliches, buntes Happening geworden, und wir sind mittendrin.


Brian führt uns zu einer der vielen Breakdance-Gruppen. Alle von denen sind seine Freunde, sagt er freudestrahlend. Er wäre nicht so gut im Tanzen und auch die Kunst läge ihm nicht so sehr. Aber er habe sich Englisch beigebracht und kann gut mit Menschen. Und so führt er heute UNS durch SEIN Viertel. Das macht er wirklich gut, er brennt für seine Sache und möchte eines Tages eine eigene Agentur für Tourismus haben, so sein Traum. Wir bestaunen eng gedrängt eine weitere Showeinlage. Beste Gelegenheit hier die Langfinger auszustrecken. Aber nichts passiert!
Hier wird sich ausgepowert, aber sowas von. Hier kann alles rausgelassen werden, Frust, Kummer, Freude, Liebe. Schon die kleinen Kinder sind mit von der Partie. Toll!!! So kommt man nicht auf dumme Gedanken!

Apropos Freude und Liebe… Ich habe das Gefühl, das hier ist ein einziges Fest. Hier wird jeden Tag und jede Nacht das Leben gefeiert❣️






Die meisten Bildnisse stammen von Künstlern dieses Stadtteils, aber auch Auftragskünstler durften sich hier verewigen. Mittlerweile ist die Comuna 13 eine einzige, beeindruckende Kunstgalerie. Die Bilder explodieren förmlich vor Buntheit und Lebendigkeit. Fast jedes Bild hat etwas von der Vergangenheit zu verarbeiten und gleichzeitig für die Zukunft etwas zu sagen. Das Bild oben, vor dem wir knien, nimmt Bezug auf Mutter Erde, die es gilt in Händen zu halten und zu bewahren. Ich muss sofort an den Auftrag der Kogi denken. 🥹

Dreizehn ist Frieden, aber auf dem Hintergrund der Säuberungsaktion „Orion“, der Favela und dem Aufstieg durch die Rolltreppe.



Ich könnte stundenlang vor diesen Bildern verweilen und mir jedes einzelne Detail genauestens anschauen. Wer hat es gemalt, was für ein Leben steckt hinter dem Künstler, welche Interpretation ist möglich…

Brian berichtet uns von seinem Chef, dem mittlerweile bekannten Künstler Chota. Er besitzt heute eine Galerie, eine Touristenagentur und eine Bar, in die uns Brian noch führen wird.


Hier ein Bild zum Tag der Entscheidung, zur Mission „Orion“ am 16.10.2002. Die Würfel sind gefallen, die Karte ist gespielt. Auch die Zeitrechnung der Menschen hier ist geprägt von dieser einschneidenden Aktion. Sie sprechen oft von der Zeit vor „Orion“ und der danach.

Auch die Indigenen werden geehrt. Der Kolibri in seinen schillernden Farben, stehend für die Schönheit der Flora und Fauna, die wiederum in den Händen der Indigenen liegt. Auch gelten sie als die Vorfahren aller Kolumbianer.
Dann geht’s in die Bar von Chota und seinen illustren Gästen. Eine Wand ist gespickt mit Fotos von prominenten Besuchern. Hey Bill!

Er hat seine ersten Sprühdosen, Farben und Malutensilien als Deko an die Decke gebracht.

Und dann testen wir ein In-Getränk in Chota‘s Bar, Kaffee mit Limonade. What??? 😳

Seltsam aber nicht schlecht❗️Neben Klaus steht Gaston, unser venezolanischer Guide. Wir genießen hier doch tatsächlich eine 1:1 Betreuung. Jetzt aber bitte mal zu den Rolltreppen, den berühmten…


6 von diesen zig tonnenschweren Elementen wurden hier verbaut. DIE beim Bau hier hochzubekommen war schon ein Abenteuer für sich!
Das wirklich Authentische ist, die Menschen leben auch tatsächlich noch hier. Auch wenn sie damit klarkommen müssen, dass selbst ihre gewaschene Wäsche fotografiert wird.


Jetzt geht’s über die Flaniermeile. Ein Souvenir Stand wechselt sich mit der nächsten Fressbude ab. Zu trinken gibt’s auch genug.




Alles um mich herum ist unglaublich bunt, es wuselt vor Menschen, verschiedenste Musiken erklingen, Essensdüfte ziehen in meine Nase. Ich werde immer sprachloser über diesen Extremwandel. Gleichzeitig erfasst mich die Euphorie, die die Menschen hier ausstrahlen, dieser ungebrochene Wille, etwas voranzubringen, die immer noch stark wahrnehmbare Aufbruchsstimmung. Sie nimmt mich in ihren Bann, voll und ganz❣️Am liebsten würde ich Brian mit nach Deutschland nehmen, ihn seine Geschichte erzählen lassen, in den Regionen unseres Landes, die wir mittlerweile als No-Go-Areas bezeichnen. Auch wenn ich weiß, dass die Gründe für diese Gebiete andere sind, dennoch! Er könnte aufzeigen, wie man mit staatlicher Hilfe, pfiffigen Ideen und den betroffenen Menschen zusammen, Großes erreichen kann.


Wir schlendern wieder runter und kommen durch stillere Straßen dieser Favela.







Es ist ordentlich und aufgeräumt, wo ich auch hinschaue! Nur die Stromkabel haben etwas Verwirrendes… 🤭. Es wurde darauf geachtet, genügend Freiräume für die Jugend zu schaffen, wie hier dieser Sportplatz. Gute Sache!


Dann führt uns Brian zurück an den Punkt, wo er uns in Empfang genommen hat. Irgendwo da unten, in dem Gewusel.


Hab Dank für deine eindrucksvolle Führung❣️Ihr wisst wer ihr seid und was ihr geschafft habt und jeden Tag aufs neue schafft!
Nur ein Wort: 💥 GROSSARTIG 💥
Wir gondeln 🚠 und fahren 🚙 wieder zurück in unser Hotel. Jetzt gibt’s erstmal viel zu verarbeiten und ein Stück Geburtstagstorte mit Kerzlein vorzubereiten. Ich muss mal eben an die Rezeption, alleine…
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